Texte

Peter Assmann

Naturresonanzen, sichtbar – zur Bildkunst von Evelin Schertle

I.

Holz zählt zu den traditionsreichsten Bildträgern der Europäischen Kunstgeschichte. In einem seit Jahrhunderten in diesem Kontext diskutierten Verständnis der Begriffe „Malerei“ und „Gemälde“, das sich intensiv auf das Objekt des „Bildes“ konzentriert, nimmt dieser Bildträger eine vorrangige Position ein. Das mobile – das heißt tragbare und daher zu verschiedenen Orten transportierbare -, selbständige Bildobjekt beginnt seine kunsthistorische „Karriere“ bei den auf Holztafeln gemalten Mumienportraits im Ägypten der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, um in der Folgezeit einen festen Platz in der Bilddiskussion wie auch der bildhaften religiösen Praxis der christlichen Orthodoxie zu erlangen. Noch heute werden Ikonen in den orthodoxen Glaubensgebieten in der klassischen Technik „Tempera auf Holz“ gestaltet. Erst in der frühen Neuzeit löst in Mittel- und Westeuropa das Leinwandbild diese bemalte Holztafel in umfassender Weise im Sinne eines Gemäldes ab. Speziell in der Volkskunst Europas findet sich der Bildträger Holz allerdings bis in die Gegenwart.

Die bemalte Holztafel steht also wie kaum ein anderes Kunstobjekt für eine lang andauernde, einerseits umfassend sozial wirksame andererseits aber auch zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit Bildkunst.

Diese jahrhundertelange Tradition der Malerei auf Holz benützt dieses Material im Sinne eines dauerhaften, zugleich nicht zu schweren Bildträgers. Die Materialqualitäten der jeweils verwendeten Holztafel werden in dieser Bildtradition allerdings unsichtbar gemacht; in vielen schichtenweise aufgetragenen Grundierungen wird in mehreren aufwändigen, handwerklichen Schritten eine möglichst homogene Malfläche aufgebaut. Diese möglichst neutral wirkende Grundierung dient dann als Trägerschicht für die unterschiedlichen Bildkompositionen.

Evelin Schertle durchbricht diese Traditionen und erweitert sie zugleich – denn sie macht die Strukturen des hölzernen Bildträgers sichtbar.

II.

Die Bildkompositionen der Künstlerin der letzten Jahre sind durchwegs auf sogenannten OSB – Platten gestaltet. Es handelt sich hierbei um Grobspanplatten, die aus langen, schlanken Spänen hergestellt werden. OSB steht für: „oriented strained board“ oder „oriented structual board“ also für eine Platte aus ausgerichteten Holzspänen. Diese Platten waren ursprünglich ein Abfallprodukt der Furnier- und Sperrholzindustrie und werden unter hohem Druck und mit hoher Temperatur unter Beimengung von leimartigen Bindemitteln aus groben Holzspänen gefertigt. Sind sie in Europa im Bereich der Bauwirtschaft vergleichsweise wenig im Einsatz, so werden sie in den USA mit großer Intensität verwendet.

Aus diesem Hilfs- und letztlich geringwertigem Abfallprodukt gestaltet die Künstlerin ästhetisch hochwertige Bildkompositionen. Die Materialwirkung der sichtbar gebliebenen groben Holzspäne verbindet sich in ihren Bildwerken mit der Erscheinungsform präzise gesetzter Pinselstriche, um solcher Maßen die kompositionellen Anliegen der Künstlerin in kompakter Verbindung von Farbschicht und Bildträger auf neuartige Weise zu verdichten. Es entstehen hochkonzentrierte Gemäldekompositionen, die sich in ihrer malerischen Wirkung nicht nur auf die Qualitäten des Farbauftrags, des gewählten Farbmaterials und des gesetzten Pinselduktus beschränken. In großer künstlerischer Intensität kommt hier ein weltanschaulicher Diskurs zum Ausdruck, den unter anderem Charles Darwin in höchst prägnanter Weise wie folgt zusammengefasst hat:

„Alles was gegen die Natur ist, hat keinen Bestand“.

III.

„In der Natur fühlen wir uns so wohl, weil sie kein Urteil über uns hat“ (Friedrich Wilhelm Nitzsche)

Die Bildkompositionen von Evelin Schertle geben dem Verhältnis von Mensch und Natur einen neuen bildnerischen Denkraum. Ihre behutsam gesetzten, analytisch orientierten, geometrischen Kompositionselemente verbinden sich in organischer Weise mit der formalen Logik des Verhältnisses von Material und Struktur des Bildträgers wie auch der differenzierten Farbsetzung. Hier agiert die Künstlerin mit klar platzierten, vielfach deckenden Pinselstrichen aber auch mit Farbgebungen, die in die Tiefe des Trägermaterials eindringen und somit die Spanstrukturen des Holzes im Sinne von solchen „gesetzten Pinselstrichen“ hervorheben.

In diesen holzorientierten Bildräumen lässt die Künstlerin viel Platz zur Ausbreitung – sowohl Raum für Wachstum wie auch Raum für bewusst Gestaltetes. Dieses im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs so zentrale Thema des Spannungsverhältnisses zwischen Biofakt und Artefakt wird solchermaßen auf ein klares, frisches, neues und doch in vielfältige Tiefen verweisendes Erörterungsfeld geführt. Die Natur begegnet dem Betrachter als zugleich innere und äußere Realität, als physisch erlebbare Raumbestimmung in permanenter Wachstumsbewegung wie auch als dynamischer psychischer Erfahrungsraum.

Der Betrachter dieser Bildwerke bewegt sich wie in einem Wald. Erstaunt über die stets neuen Formkonstellationen, die ihm begegnen, sucht und findet er seinen eigenen persönlichen Weg. Manchmal bleibt er einige Zeit gleichsam im dichten Gestrüpp hängen, manchmal kann sich seine Bewegung in großzügiger Weise neu orientieren. Es ist allerdings ein stets neu sich zusammenfindendes Miteinander und Ineinander, das diesen Betrachtungsweg strukturiert, eine im übertragenen Sinn „vorurteilsfreie“ Entwicklungsbewegung, die sich hier ermöglicht.

Denn diese malerischen Welten sind nicht durchdefiniert, sondern nach wie vor in dynamischer Weise offengehalten. Ihre Räumlichkeit bestimmt sich als Gemengelage unterschiedlichster Über- und Unterordnungen, sodass sich hier keine Hierarchie festsetzen kann. Der Betrachter wird gemeinsam mit der gestaltenden Künstlerin auf einen Weg gebracht, der sich nicht als soziale Vorstrukturierung, sondern zuvorderst als individuelle Herausforderung in permanenter Veränderung vorstellt.

IV.

Besonders interessant erscheint in den Bildwerken der Künstlerin die Wirkung von Nähe und Distanz. Die geschnittenen Holzspäne verweisen sehr klar auf eine Bewegung des Näherkommens, des Eindringens, des Aufbrechens, zugleich ist ihre abdeckende, geschichtete Wirkung offensichtlich. Ähnlich verhält es sich mit der Farbgebung, die sowohl in den Bildträger eindringt und tiefere Schichten bildet, wie auch vorhandene Schichten überdeckt.

Der Betrachterblick ist somit zum beständigen Changement zwischen Annäherung und Zusammenfassung eingeladen. Er kontempliert sich – je nach eigener persönlicher Ausgangslage – seine speziellen, von Situation zu Situation unterschiedlichen Näheverhältnisse. Er bewegt sich nach vor und zurück, nach oben und doch stets in umfassender Weise tiefer.

So meditativ anregend und bewusstseinserweiternd diese Wirkung ist, so sehr bürgt doch die konkrete Materialwirkung des Holzes für eine konsequente physische Nähe, ein Körpergefühl, das sich gegen ein komplettes „Abgehoben-Sein“ stellt. Diese Bildwerke sind „berührungsnahe“ und doch in gleicher Weise visuelle Katalysatoren für geistige Wanderungsbewegungen im Großen und Gänzlichen.

Sie führen jeden Betrachter in einen, in „den“ Wald: Stets ist ein Baum zum Greifen nahe und doch ein weiter Erfahrungsraum dazwischen.

V.

Dieser im weitesten Sinne „Waldraum“ in den Bildkompositionen der Künstlerin ist – wie in jedem Wald vorherrschend – eine Erfahrung von Gesamtheit, die sich nicht aus der additiven Menge seiner Einzelelemente ergibt. Ein Wald ist stets mehr als die Summe seiner Bäume; eine Bildkomposition von Evelin Schertle ist stets mehr als die Summe der gestalterischen Einzelelemente – und seien sie auch noch so klar und präzise in ihrer Wirkung.

Die „geschnittenen“ Holzelemente in Verbindung mit den gesetzten Farbstrukturen verweisen auf eine grundsätzliche Naturerfahrung, die sich gleichsam dimensionslos ausbreiten kann. Große Naturräume wie auch unterschiedlich fokussierte Perspektiven im Kleinen sind in diesen Bildwerken zusammengefasst. Der beständige Wechsel der Blickbewegungsmöglichkeiten lässt ausgreifende Verbindungen und Resonanzen entstehen, eine Atmosphäre der beständigen Veränderung, des stets neu „Zu-Fallenden“, der einander durchdringenden Schichtungsräume, der ausgreifenden Vielfalt …

„Stille, mit einer Bewegung gefüllt, die ich nicht höre, von der ich doch weiß, daß sie abläuft: da ist es. Das Tausendnamige. Sich unaufhörlich Wälzende, Drehende, Aufsteigende, Zurückfallende, Sich Kreuzende.“ (aus: Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten)

Es geht in diesen Bildwerken um sehr grundlegende Kräfte, um Energien der Veränderung, des beständigen Eingreifens und wieder Loslassens und Mitgetragen-Werdens. Es geht um die vielen Wirksamkeiten der schöpferisch gestaltenden Bewegungsmöglichkeiten rund um den Menschen und in ihm – um das Unaufhörliche …

Die Werkbetrachtung, von Peter Assmann, ist einer von drei Textinterpretationen zum Werk E. Schertles, die in der Werkmonografie, die voraussichtlich Ende 2021 erscheint, als Vorveröffentlichung auf der Webseite platziert wurde.

Peter Assmann

seit 11/2019: Museumsdirektor/Geschäftsführer der Tiroler Landesmuseen.
internationale Tätigkeit als Kurator für Kunstausstellungen,
Jurytätigkeit für Museumsfragen, zeitgenössische Kunst sowie Kunst im öffentlichen Raum.

Peter Assmann

Resonance of nature, visible – on the visual art of Evelin Schertle

I.

Wood is one of the image carriers most rich in tradition in European history of art. This image carrier takes a primary position in an understanding of the terms “painting” and “picture”, which has been discussed in this context for centuries and concentrates intensely on the object of the “image”. The mobile – meaning portable and therefore transportable to different places -, independent image object begins its art-historical „career“ with the mummy portraits painted on wood panels in the Egypt of the first centuries AD, to gain a permanent place in picture-based discussion as well as in pictorial religious practice of Christian Orthodoxy. Even today, icons in regions of Orthodox Christian faith are created using the classical technique of „tempera on wood“. It was not until the early modern era, that the canvas picture fully replaced the painted wood panel in the sense of a painting in Central and Western Europe. However, wood as an image carrier can be found to the present day, especially in folk art in Europe.

Like no other art object, the painted wood panel stands for a long-lasting, on the one hand comprehensively socially effective, but on the other hand also deeply personal examination of image art.

This century-old tradition of painting on wood uses the material in the sense of a permanent, yet not too heavy image carrier. However, the material qualities of the used wooden panel are made invisible in this pictorial tradition; with many layers of primer and in several complex manual steps, the most homogeneous painting surface possible is crafted. This primer, which appears as neutral as possible, serves as a carrier layer for the different picture compositions.

Evelin Schertle breaks and, at the same time, enhances this tradition – she makes the structures of the wooden image carrier visible.

II.

The image compositions of the artist in recent years have consistently been designed on so-called OSB panels. These are coarse chipboards made from long, slender chips. OSB means: „oriented strained board“ or „oriented structural board“, thus a panel made of aligned wood chips. These panels were originally a waste product of the veneer and plywood industry and are manufactured from coarse wood chips under high pressure and at high temperature with the addition of glue-like binders. While they are comparatively rare in the construction industry in Europe, they are used with great intensity in the USA.

Using this auxiliary and ultimately low-value waste product, the artist creates aesthetic high-quality image compositions. In her creations, the material of still visible coarse wood chips unites with the appearance of precisely placed brushstrokes in order to condense the compositional concerns of the artist in a compact connection of paint layer and image carrier in new ways. Highly concentrated painting compositions arise, whose pictorial effect is not limited to the quality of the paint application, the chosen paint material, and the applied brush of the stroke. In this, an ideological discourse is expressed with great artistic intensity, summarized by Charles Darwin, among others, in a very concise manner as follows:

„Everything what is against nature does not last“.

III.

“ We like to be out in nature so much because it has no opinion about us “ (Friedrich Wilhelm Nitzsche)

Evelin Schertle’s image compositions give the relation between human being and nature a new pictorial space of thought. Her carefully placed, analytically oriented, geometric elements of composition are organically combined with the formal logic of the relationship between the material and structure of the image carrier as well as the nuanced colours. The artist works with clearly placed, in many cases opaque brushstrokes, but also with colourations that enter the depths of the carrier material and thus accentuate the chip structures of the wood in the sense of such „placed brushstrokes“.

In these wood-oriented pictorial spaces, the artist leaves a lot of room for expansion – space for growth as well as space for the consciously designed form. This topic of the tension between biofact and artefact, which is so central in the current social discourse, is led to a clear, fresh, new, yet manifoldly deep field of discussion. Nature comes across as inner and, at the same time, outer reality, as a physically experienced definition of space in a permanent movement of growth and as a dynamic, mental space of experience.

The viewer of these images moves around like in a forest. Amazed by the ever-new constellations of forms that he encounters; he seeks and finds his own personal path. Sometimes he gets caught in the thick undergrowth for a while, sometimes his movement can be reoriented in a generous way. It is, however, an ever-new finding together with and into each other that structures this path of observation, a developmental movement “free of prejudice” in the figurative sense, which is made possible here.

This is because these picturesque worlds are not fully defined but kept open in a dynamic way. Their spatiality identifies as a composition of vastly different higher and lower levels, so that no hierarchy can be established. Together with the creating artist, the viewer is led on a path, that is not introducing itself as a social pre-structuring, but first and foremost as an individual challenge in constant change.

IV.

The effect of closeness and distance appears to be of particular interest in the artist’s work. The chopped wood chips clearly point out a movement of approaching, entering, breaking open, yet at the same time their covering, layered effect is obvious. The situation is similar with the colour scheme entering the image carrier, forming deeper layers as well as covering existent layers.

The viewer’s gaze is therefore invited to constantly change between approach and summary. He contemplates – depending on his own situation – his particular proximities, that vary according to the situations. He moves back and forth, upwards, and yet always deeper in all aspects.

As meditatively stimulating and mind-expanding as this effect is, the concrete effect of the material of the wood guarantees a consistent physical closeness, a body awareness which counteracts a “getting completely off the ground”. These pictorial works are “close-to-touch” and yet in the same way visual catalysts for mental migration on a large and complete scale.

They lead every viewer into “the” forest: a tree is always within reach and still a wide space of experience in between.

V.

This “forest space” in the artist’s picture compositions is – as is prevalent in every forest – an experience of totality, which does not result from the additive amount of its individual elements. A forest is always more than the sum of its trees; a picture composition of Evelin Schertle is always more than the sum of the individual design elements – no matter how clear and precise in their effect.

The “cut” wooden elements in connection with the set colour structures refer to a fundamental experience of nature, which can spread out free of dimension. Large natural areas as well as small, differently focused perspectives are summarized in these pictorial works. The constant change in the possibilities of eye movement creates far reaching connections and resonances, an atmosphere of constant change, of the always new „falling“, of one another permeating layers of space, of broad diversity …

“Silence, filled with a movement that I cannot hear, yet I know this silence exists: there it is. The thousand-named. Incessantly rolling, turning, rising, falling, crossing. „(From: Alfred Döblin: Mountains, Seas and Giants)

These works of art are about very fundamental forces, energies of change, of constant interfering, releasing, and going along. It is about the many efficacies of the creatively designed possible movements around and in the human being – about the incessant …

The work analysis, by Peter Assmann, is one of three text interpretations of E. Schertle’s work, pre-published on the website in the monograph, which is expected to appear at the end of 2021.

Peter Assmann
since 11/2019: director / manager of the Tyrolean state museums.
international activity as curator for art exhibitions,
Jury work for museum questions, contemporary art, and art in public spaces.